Der Freitag: John Mearsheimer: It’s about NATO, stupid!
Der Ukraine-Krieg und wie er enden könnte
John Mearsheimer erklärt, welche politischen und militärischen Fehleinschätzungen dem Ukraine-Krieg vorausgingen – und was jetzt zu wünschen wäre. Er ist nicht nur ein prominenter Politologe, sondern auch früherer Offizier der US Air Force.
31.10.2024
Als Forscher im Feld der internationalen Beziehungen habe ich lange vor einem Szenario wie dem Krieg in der Ukraine gewarnt. Ich habe immer argumentiert, dass es Folge einer falschen westlichen Politikwäre, wenn es so käme. Nun hält dieser furchtbare Krieg schon
Es hat sich gezeigt, dass die russischen Truppen nicht zu schlagen sind, ohne eine direkte Kriegsbeteiligung der NATO zu riskieren. Allmählich werden Stimmen lauter, die eine diplomatische Lösung finden wollen. Dem steht eine verbreitete Sorge entgegen:
Einer konventionellen Meinung zufolge würde Russland das als Einladung verstehen, eine Eroberung der ganzen Ukraine später anzustreben – oder sogar noch weiter nach Westen vorzurücken. Meiner Ansicht nach gibt es für diese Ängste aber keine guten Gründe. Das möchte ich in zehn Punkten darlegen.
1. Putin hat eine Eroberung der Ukraine nie angekündigt
Die Meinung, dass Russland die ganze Ukraine annektieren wolle und
daher mit ihm nicht zu verhandeln sei, wird oft damit begründet, dass
Präsident Wladimir Putin das schließlich offen angekündigt habe. Aber
stimmt das? Fand Putin es erstrebenswert, die gesamte Ukraine
einzuverleiben? Hielt er es für machbar? Hatte er die Absicht, es auch
wirklich zu tun? In öffentlichen Äußerungen gibt es dafür keine
Belege.
Putin hat gesagt, die Ukraine sei ein „künstlicher Staat“ oder kein
„echter Staat“. Aber was sagt das über seine Gründe zum Kriegseintritt
aus? Putin hat auch gesagt, er betrachte Russen und Ukrainer als „ein
Volk“ mit gemeinsamer Geschichte. Er nannte den Zusammenbruch der
UdSSR „die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“. Er
sagte aber auch: „Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz.
Wer sie zurückhaben will, hat kein Hirn.“ Für Putin wurde „die moderne
Ukraine vollständig von Russland geschaffen“. Doch in derselben Rede
sagte er auch: „Natürlich können wir die Ereignisse der Vergangenheit
nicht ändern, aber wir müssen sie zumindest offen und ehrlich zugeben.“
In Putins bekanntem Artikel vom 12. Juli 2021 über die
russisch-ukrainischen Beziehungen, der oft als Beweis seiner
imperialen Ambitionen angeführt wird, sagt er dem ukrainischen Volk:
„Ihr wollt einen eigenen Staat gründen: Ihr seid willkommen!“ Zu der
Frage, wie Russland die Ukraine behandeln sollte, schreibt er: „Es
gibt nur eine Antwort: mit Respekt.“ Der lange Text endet mit dem
Satz: „Und wie die Ukraine aussehen wird – das müssen ihre Bürger
entscheiden.“
Ferner heißt es in diesem Text und erneut in einer Rede vom 21.
Februar 2022, Russland akzeptiere „die neue geopolitische Realität“,
die „nach der Auflösung der UdSSR entstanden ist“. Ein drittes Mal
wiederholte er das noch am 24. Februar 2022, als er den Einmarsch
ankündigte. Außerdem sagte er:
„Wir haben nicht vor, ukrainisches Territorium zu besetzen.“
Er respektiere die ukrainische Souveränität bis zu einem Punkt:
„Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und
nicht existieren, wenn es sich einer ständigen Bedrohung durch das
Territorium der heutigen Ukraine ausgesetzt sieht.“
Sicher kann man einwenden, dass öffentliche Erklärungen in einer
solchen Situation nicht viel bedeuten. Dann kann man aber auch nicht
mit denjenigen Teilen ebendieser Erklärungen argumentieren, die zur
eigenen Wahrnehmung passen.
(…)
8. Im Jahr 2021 war ein schneller NATO-Beitritt der Ukraine realistisch
Russland sah und sieht einen NATO-Beitritt der Ukraine als
existenzielle Bedrohung. Das hat Putin kurz vor dem Einmarsch mehrfach
dargelegt. Am 21. Dezember 2021 erklärte er vor dem
Verteidigungsministerium: „Was sie in der Ukraine tun oder versuchen
oder planen, findet nicht Tausende von Kilometern entfernt von unserer
Landesgrenze statt. Es geschieht direkt vor unserer Haustür.
Sie müssen verstehen, dass wir uns einfach nirgendwohin mehr
zurückziehen können. (…) Glauben sie wirklich, dass wir tatenlos
zusehen werden, wie Bedrohungen für Russland entstehen?“ Kurz vor dem
Krieg wiederholte er: „Wir sind kategorisch gegen einen NATO-Beitritt
der Ukraine, weil dies eine Bedrohung für uns darstellt (...).“
Russland drohe, einem „bis an die Zähne bewaffneten ‚Antirussland‘“
gegenüberzustehen. Sein Außenminister Sergei Lawrow nannte es bei
einer Pressekonferenz am 14. Januar 2022 den „Schlüssel zu allem“,
dass „die NATO nicht nach Osten expandieren wird“.
In der westlichen Öffentlichkeit hört man hingegen oft, diese
dramatisch vorgetragenen Befürchtungen seien nur vorgeschoben gewesen,
weil 2021 ein baldiger NATO-Beitritt der Ukraine gar kein Thema
gewesen sei. Das ist aber einfach falsch.
Tatsächlich bestand die westliche Reaktion auf die Krise von 2014
darin, die Perspektive für einen ukrainischen NATO-Beitritt zu
forcieren. Das Bündnis bildete in den folgenden acht Jahren
durchschnittlich 10.000 Soldaten pro Jahr aus.
Im Dezember 2017 beschloss die Regierung von Präsident Donald Trump
die Lieferung von „Verteidigungswaffen“, andere NATO-Länder zogen
nach. Die ukrainische Armee, Marine und Luftwaffe begannen, an
NATO-Manövern teilzunehmen.
Aber auch für einen formalen Beitritt entstand eine neue Dynamik.
Anfang 2021 vollzog Präsident Wolodymyr Selenskyi, der vorher keinen
großen NATO-Enthusiasmus gezeigt hatte und im März 2019 auf der
Grundlage einer Plattform gewählt wurde, die zur Zusammenarbeit mit
Russland bei der Beilegung der anhaltenden Krise aufrief, einen Kurswechsel.
Nun befürwortete er nicht nur die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine,
sondern auch eine harte Linie gegenüber Moskau. (…)
Zeitgleich war Präsident Joe Biden ins Weiße Haus eingezogen. Er hatte
sich seit langem nachdrücklich für einen NATO-Beitritt der Ukraine
eingesetzt. Es überrascht nicht, dass die NATO am 14. Juni 2021 auf
ihrem jährlichen Gipfel in Brüssel ein Kommuniqué herausgab, in dem es hieß:
„Wir bekräftigen den auf dem Gipfel von Bukarest 2008 gefassten
Beschluss, dass die Ukraine Mitglied des Bündnisses wird.“ Als
Selenskyj am 1. September 2021 das Weiße Haus besuchte, stellte Biden
klar: Die USA seien „fest entschlossen“, die „euro-atlantischen
Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen“.
Am 10. November schließlich unterzeichneten US-Außenminister Antony
Blinken und sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba die „Charta
der strategischen Partnerschaft zwischen den USA und der Ukraine“.
Man wolle, heißt es darin, „das Engagement für die Durchführung
tiefgreifender und umfassender Reformen in der Ukraine“ vorantreiben,
„die für eine vollständige Integration in die europäischen und
euro-atlantischen Institutionen erforderlich sind“. Wiederum wird
ausdrücklich die „Bukarester Gipfelerklärung von 2008“ bekräftigt.
Es kann kaum Zweifel daran geben, dass die Ukraine Ende 2021 auf dem
besten Weg zur NATO-Mitgliedschaft war. Einige Befürworter dieser
Politik argumentieren, dass sich Moskau darüber keine Sorgen hätte
machen müssen, sei doch die NATO ein defensives Bündnis und für
niemanden eine Gefahr. Aber das ist nicht die Meinung Putins und
anderer russischer Politiker, und darauf kam es hier an. (…)
(…)
10. Es geht Moskau noch immer zuerst um die Neutralität der Ukraine
Ob vor dem Krieg oder während der Gespräche kurz nach dessen Beginn:
Die Russen haben immer deutlich gemacht, dass es ihnen zuerst um eine
militärische Neutralität der Ukraine geht.
Daran hat sich nichts geändert. Zuletzt hat Putin am 14. Juni 2024
zwei Forderungen formuliert, die erfüllt werden müssten, um einen
Waffenstillstand zu vereinbaren und Verhandlungen einzuleiten. Eine
davon war, dass Kiew „offiziell“ erklärt, „dass es seine Pläne, der
NATO beizutreten, aufgibt“.
Nach zweieinhalb Jahren eines furchtbaren Krieges sind die Dinge
komplizierter geworden als sie noch kurz nach dessen Beginn waren.
Alle haben viel „investiert“ und erwarten nun Ergebnisse. Nicht nur
auf ukrainischer und westlicher Seite müsste zuerst Vertrauen
aufgebaut werden, sondern auch in Moskau – nach dessen Erfahrungen
etwa mit den Minsker Abkommen zur Befriedung des Donbas. Realistisch
ist heute vielleicht nicht mehr als ein fragiler Waffenstillstand und
ein eingefrorener Konflikt.
Doch alles ist besser als eine fortgesetzte Eskalation mit unzähligen
Opfern und unüberschaubaren Risiken. Und wer sine ira et studio auf
die länger- und kurzfristige Vorgeschichte des Krieges sowie die
bisherigen Versuche seiner Beilegung schaut, sieht immerhin eins:
Entgegen der konventionellen Meinung wird in der Ukraine nicht – wie
im Zweiten Weltkrieg – gegen den Versuch gekämpft, ein neues Großreich
zu erobern. Sondern um eine konkrete, begrenzte und konsistent
vorgebrachte politische Forderung.
John J. Mearsheimer lehrt seit 1982 Internationale Beziehungen an der
Universität von Chicago. Zuvor absolvierte er die Militärakademie West
Point und diente fünf Jahre als Offizier in der US Air Force. Bekannt
ist er nicht nur für sein schulemachendes Hauptwerk The Tragedy of
Great Power Politics, sondern auch für politische Interventionen.