Ein junger Verwandter fragt mich zunehmend verzweifelt, wie ich das so sehe „mit dieser Welt“? Er habe, sagt er, „schreckliche Angst vor der Zukunft“ , ich solle ihm doch „bitte, bitte“ erklären, wie ich das empfinde „mit PutinTrumpMerzHofreiterPistorius und all den anderen Gestalten“. Warum, fragt er, „schreien die alle so nach Waffen?“
Und ich, ich sitze da, grüble, was ich dem 17-Jährigen antworten soll, mir geht es ja selbst so, dass ich die Zukunft ziemlich düster sehe, dass es mir vor ein paar Tagen sprichwörtlich in den Magen fuhr, als ich im Radio hörte, dass die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen 800 Milliarden Euro in die Aufrüstung stecken will und dass die Nochnichtregierungskoalition aus CDU/CSU und SPD gemeinsam mit den aus der Regierung abgewählten Grünen ebenfalls Hunderte von Milliarden, faktisch grenzenlos viel Geld in Waffen investieren wird: „whatever it takes“.
Bei diesen Worten des CDU-Chefs Merz wurde mir richtig schlecht,
aber seine Worte passen in ihrer Kälte zu den Sätzen des noch amtierenden
Verteidigungsministers Boris Pistorius: „Wir müssen kriegstüchtig sein. Wir
müssen wehrhaft sein. Und die Bundeswehr und die Gesellschaft dafür
aufstellen“. Dass ein Sozialdemokrat so daherredet – nach den fürchterlichen
Erfahrungen von Faschismus und zwei verheerenden Weltkriegen, das hätte ich mir
bis vor Kurzem nicht vorstellen können. 1914/1918 und 1933/1945 – das Grauen
vergessen?
Was wir gerade erleben, was mich fassungslos macht, das ist
dieser selbstbewusst durchgezogene Abschied von der alten Bundesrepublik, die
„verteidigungsfähig“ sein wollte, es ist dieser endgültige Abschied von
geschichtlich schmerzhaft erworbener militärischer Zurückhaltung. „Kriegsfähig“
und kriegstüchtig“: Diese Wörter, die nun inflationär von fast allen Politikern
gebraucht werden, kennzeichnen den Bruch mit einem Gründungsversprechen der
alten Bundesrepublik: „Nie wieder Krieg!“
„Man soll dem deutschen Volk doch den einzigen Sieg lassen, den
es 1945 errungen hat, nämlich den Sieg über den Militarismus“, sagte Carlo
Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes. Damit ist es jetzt vorbei,
endgültig vorbei. Wohin die Reise geht? Was soll ich dem 17-Jährigen sagen? Der
das Leben vor sich hat? Der Lust auf Leben hat! Und doch offenbar immer mehr
Angst hat vor dem Leben, das auf ihn zuzukommen droht.
Und ich, ich sitze da, grüble, finde keine Worte des Trosts, wie
auch, denn ich weiß, dass die Nazis, als sie die Wehrmacht mächtig aufrüsteten,
eben dieses Wort in ihren Strategiepapieren benützten, das mir jetzt so
Bauchweh bereitet: „kriegstüchtig“ werden. Verdammt, verdammt, ist es ein
Gesetz, dass der Mensch nichts aus der Geschichte lernt? Ist es so, dass man
heute etwas größer als früher wird, etwas länger lebt, aber vor allem
effizienter geworden ist beim Töten? Diese Fragen, genau diese, stellte ich ein
paar Tage vor seinem Tod, im Frühsommer 2014, Hans-Ulrich Wehler, dem damals
wichtigsten Historiker Deutschlands.
„Das stimmt“, antwortete er: „In den Menschen scheint ein
Aggressionspotenzial zu sein, das unter bestimmten Umständen aufgebaut werden
kann, eine Aggressionslust, die abgerufen werden kann. Nach dem Versailler
Vertrag waren ja viele Deutsche der Meinung, sie hätten zu Unrecht den Krieg
verloren und zu viele Gebiete an Polen oder Frankreich abgeben müssen. Am
Anfang des Zweiten Weltkrieges waren dann viele Deutsche der Meinung, dass der
Blitzkrieg gegen Polen ein toller Erfolg gewesen sei, dass man es den Polen
endlich gezeigt habe. Und dann, als Frankreich innerhalb von sechs Wochen
geschlagen war, traf ich mit meinem Freund Jürgen Habermas auf der Straße
seinen Vater mit einem Bekannten, und da sagte der Vater: Mensch, der Führer
hat in sechs Wochen hingekriegt, wo wir vier Jahre im Schlamm gelegen haben!“
Wie sehr sich inzwischen das nun vorherrschende Denken ins
Militärische verschoben hat, zeigt sich an den Anmerkungen von Wehler zur
damaligen Verteidigungsministerin von der Leyen: „Gegen Aufklärungsdrohnen habe
ich nichts. Aber dass sich von der Leyen so für bewaffnungsfähige Drohnen
einsetzt, ist fatal. Damit wird eine Grenze überschritten, die ein Rechtsstaat
nicht überschreiten darf. Vor Kurzem hätte ich solche Vorschläge für undenkbar
gehalten.“
Das damals fast Undenkbare ist heute normalste
Selbstverständlichkeit – wie zu vieles. Kurz nach dem russischen Überfall auf
die Ukraine, warnte Außenministerin Annalena Baerbock, die einer Partei
angehört, die früher „Schwerter zu Pflugscharen“ machen wollte: „kriegsmüde“
dürfe man nicht werden. Doch. Das ist mein Wunsch an den 17-Jährigen, dass er
„kriegsmüde“ bleibt: „whatever it takes“, Herr Merz.
Wie Schlafwandler, schrieb der Historiker Christopher Clark,
taumelten 1914 die Politiker in die Katastrophe. 109 Jahre später schlafwandeln
sie nicht, hellwach rüsten sie auf, im Westen wie im Osten, und fühlen sich
dabei moralisch jenen unangreifbar überlegen, die zu militärischer Mäßigung
mahnen und an Diplomatie erinnern.